DEN KOKON ABSTREIFEN

 

Eva Kunstmann ist in Rezensionen zu ihrer Malerei immer wieder auf die Musik festgelegt worden. Als ob ihre Mu­sikalität zusätzlich zum Ausdruck in ein anderes Medium drängte. Das ist zum Teil richtig, und die Entwicklung ihrer Bilder zeigt deutlich die Kontinuität eines Themas mit vie­len Variationen, mit diminuendo, reprise, eher in moll als in dur, selten allegro, dann aber gleich als fortissimo („Taifun", so der Titel einer frühen Arbeit). Und überdeut­lich sind natürlich die collagierten diesbezüglichen Hin­weise der Künstlerin wie Notenlinien und Bildtitel.

 

Dennoch wird diese Interpretation der malerischen Kraft der Künstlerin nicht ganz gerecht. Das kurze, in Fragen der Technik und Komposition einführende private Malereistu­dium kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Eva Kunst­mann im wesentlichen Autodidaktin ist. Und da sind es besonders zwei Grundzüge, die— im Widerspruch mitein­ander — zur Klärung drängen.

 

Es ist dies zum einen das spontane, existentielle Bedürfnis, die Intuitionen, Gefühle, Empfindungen, Wünsche im Bild dingfest zu machen. Der malerische Ausdruck dazu findet Gestalt in freien Pinselschwüngen und -wirbeln, in Wahl und Modulation der Farbe sowie im spielerischen Um­gang mit ihr (pastos, lasierend, gespachtelt, gekratzt, ge­schürft, gebürstet), meist erdfarben oder blau-grau Ton in Ton, manchmal auch mit plötzlich aufleuchtenden Farb­akzenten. Diese Malerei fliegt über die gesamte Bildflä­che frei verfügend mit instinktiver rhythmischer Sicherheit, impulsiv und abstrakt. Zum anderen ist es das rationale, ordnungstiftende Be­dürfnis, das die Kontrolle über den Impuls ausübt, die Bild­fläche prüft und plant mit dem Ziel einer wohl gestalteten Harmonie. Dies geschieht zum Beispiel mit den Mitteln der Collage und Decollage, mit denen die Bildfläche ästhe­tisch arrangiert und kombiniert wird.

 

Dieser Widerstreit zwischen Impuls und Regulierung ist ein Kontrast zwischen gleichzeitigen wie gleichwertigen Ele­menten, die in fast allen Bildern ein sich nahezu ausbalan­cierendes Gewicht halten. Seit einigen Jahren jedoch gibt es immer deutlichere Veränderungen.

 

„Ausbruch", „Rausch der Verwandlung" heißen zwei Titel der Jahre 1990/91. Das begann mit dem Aufbruch der Grenzen, indem Eva Kunstmann sich über die geraden Bildränder hinwegsetzte und diese riß, so daß seitdem unregelmäßige Konturen bis hin zu komplett weggerissenen Ecken den ungewöhnlichen, sehr individuellen Rahmen abgeben. Die Pinselschwünge erhalten immer mehr Gegenschwünge, in letzter Zeit finden sich über die Malschichten gelegt tachistisch anmutende Linien wie leichte, lange Fäden und Schlaufen. Die Textur der Oberfläche wird bewegter d. h. sie besteht nicht mehr ausschließlich aus der Überlagerung der verschiedenen Farbschichten oder der collagierten Elemente, sondern sie wird partienweise gebauscht, geknautscht, sie wölbt sich und tritt wieder zurück, kurz: sie nimmt reliefhafte Gestalt an. Und die Bildfläche, die sich früher überwiegend diagonal und manchmal auch horizontal oder vertikal konstituierte, wird jetzt zur Tiefe hin gestaltet und zieht den Blick des Betrachters in einen imaginären Raum hinein. Nach Jahren der Einnahme und Gestaltung nun also die vorsichtige plastische Strukturierung der Fläche und deren Ausdehnung in den Tiefenraum: das Heraustreten aus dem Kokon.

 

 

 

Jutta Tezmen-Siegel, im Oktober 1992