Einführung in die Ausstellung „Handschriften“ von Eva Kunstmann

 

am 15. Juni 2012 im Kunstverein Kulmbach

 

 

Die Ausstellung, deren Eröffnung wir heute beiwohnen dürfen, trägt den Titel „Handschriften“ – und je länger ich über diesen Titel nachdachte und die Bilder im Vorfeld betrachtete, umso treffender erscheint er mir; er ist keine im Grunde nichtssagende Sammelbezeichnung wie z.B. „Neue Werke“, sondern trifft ins Zentrum des künstlerischen Schaffens, das wir hier und heute sehen.

 

 

 

Im Wort „Handschrift“ steckt zunächst einmal das Wort „Schrift“. Und in der Tat entdecken wir auf einigen Bildern Schriftzeichen aus dem chinesischen, indischen Kulturraum und weiteren uns geographisch fernen, wenngleich in einer globalisierten Welt nahegerückten Kulturräumen – in Collagentechnik in das Bild montiert oder von der Künstlerin mit dem Pinsel gemalt. Die wenigsten von uns werden sie lesen können und sie wollen auch gar nicht gelesen sein. Aber wir spüren, dass sie auch mehr sind als nur dekorative Schnörkel. Sie sind Zeichen, denen wir eine Bedeutung nicht zuordnen können, wodurch sie zum Zeichen an sich werden. Sie tragen einen Verweischarakter bei gleichzeitiger größtmöglicher Deutungsoffenheit. Das macht ihre Verwandtschaft mit der bildenden Kunst aus, die ja auch über sich hinausweist, ohne die betrachtende Person auf eine Deutung festzulegen. Deutlich wird: Was immer wir lesen und sehen – wir sind es, die den Sinn konstruieren.

 

 

 

Aus der Kombination von Schriftzeichen mit Farbflächen und Formen, die wir möglicherweise als Tiere, Blätter, Blüten oder was auch immer zu erkennen glauben, ergibt sich eine Art „Text“, der von jedem einzelnen anders gelesen werden kann. Man muss dafür keine kunstwissenschaftliche Ausbildung haben. „Im Buch der Natur lesen“ ist eine altbekannte Redewendung und haben wir nicht schon manchmal geglaubt, Schriftzeichen zu sehen, wenn wir eine Rinde, Jahresringe im Baum, Gesteinsschichten oder die verwinkelte Spur des Holzwurms sahen? Der poröse Farbauftrag Eva Kunstmanns, der oft den Blick auf viele, sich überlagernde  Farbschichten freigibt, erweckt bisweilen solche Assoziationen, ohne jedoch jemals die Farbe Grün zu verwenden und plump abbildend zu werden. Der Bild-„Text“ entsteht aus einer Kombination von diversen Elementen – über das Bild hinaus. So tragen auch diese ganz besonderen Ausstellungsräume mit ihren Spuren der Vergangenheit dazu bei, die Bilder in einer bestimmten Art zu lesen. Das macht für mich überdauernde Kunst aus – sie bleibt gleich und verändert sich doch je nach Umgebung und betrachtender Person und deren momentaner Lebenssituation – und wird so nie langweilig, sondern begleitet uns von Ort zu Ort und über die Jahre hinweg und lässt uns immer neue Dinge sehen und „lesen“. Wie Paul Klee sagte: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“.

 

 

 

Es ist nur ein kleiner Schritt von den Buchstaben eines bestimmten Schriftsystems zu den tanzenden Linien und Punkten auf Eva Kunstmanns Bildern, die wie erfundene Geheimschriften wirken, Schriftzeichen, die es so noch nicht gibt. Sie bewegen sich von links nach rechts oder von rechts nach links, aber auch von oben nach unten, ganz wie es bei Schriftsystemen vorkommt. Auf ganz neuartige Weise interpretiert damit die Künstlerin ein Bildaufbauprinzip neu, das wir von ihr schon länger kennen, nämlich die Betonung von Längs- und Querachsen.

 

 

 

Ganz deutlich wird hier auch, dass es sich um Hand-Schriften handelt, um von Hand Gemachtes, damit Einmaliges, Individuelles. Gerade in Zeiten, in denen unsere schriftliche Kommunikation ganz überwiegend über die Tastatur eines Computers abgewickelt wird, gewinnt Handschrift umso mehr an Reiz. Unvergleichlich die Aura, die den Autographen eines Gedichts umgibt, das es in dieser Form wirklich nur einmal gibt, oder die illuminierte Buchhandschrift, bei deren Betrachtung wir eine geheimnisvolle Verbindung zwischen Schöpfer/Schöpferin und Betrachter/Betrachterin zu spüren glauben. So auch bei diesen Bildern, von denen keines dem anderen gleicht.

 

 

 

Dennoch erkennen wir sofort die Kunstmannsche „Handschrift“, diesmal in einem übertragenen Sinn gebraucht. Es ist das Unverwechselbare, ganz Eigene, das dem Diktat schnelllebiger Moden trotzt und doch sich ständig weiterentwickelt, das nicht selten auf den ersten Blick anspricht und doch etwas Kantiges, Eigenwilliges behält. Wir erkennen Eva Kunstmanns Bilder sofort wieder, ob es sich um frühe Bilder mit figürlichen Elementen handelt oder eben um Gemälde, in denen neuerdings Schrift eine besondere Rolle spielt. Was ist weiterhin neu in den letzten Jahren hinzu gekommen? Neben den vertrauen Längs- und Querachsen finden sich vereinzelt auch Bilder, die um ein Zentrum kreisen. Neben die Dunkel-Hell-Kontraste, oft mit Blau und Schwarz und rostigen Braun/Rot-Tönen, treten aufregende Goldelemente. Sie verleihen den Bildern eine ganz besondere Ausstrahlung und Anmutung – wie geheimnisvolle und kostbare asiatische Türen und Schreine wirken sie auf mich und erinnern so an ganz, ganz Altes in einem absolut modernen Gemälde. Vielleicht ist das der Grund, warum Eva Kunstmanns Bilder wirklich in jedem Raum so überzeugend wirken, ob nun in privaten oder Ausstellungsräumen.

 

 

 

Neu ist auch die Verwendung von Notenblättern als Maluntergrund. Auch hier handelt es sich um Schrift, um Notenschrift, die aber in den Hintergrund tritt und mit eigenen, kraftvollen Zeichen übermalt wird. Diese Blätter sind für mich ein Sinnbild des Musizierens selbst, nämlich der Verwandlung einer Partitur in ein einmaliges Kunstwerk. Nirgendwo mehr als hier spüren wir die musikalische Ausbildung der Künstlerin. Und wie Musik selbst „bedeuten“ diese Bilder nichts Bestimmtes, gleichwohl fiele es uns leicht, ihnen Bezeichnungen wie Largo, Scherzo, Capriccio usw. zuzuordnen.

 

 

 

Eines dieser Notenbilder können Sie heute leider nicht sehen, weil es nämlich bei mir zuhause hängt. Seitdem dies so ist, entspinnen sich unweigerlich Gespräche über das Bild, wann immer Gäste eintreffen, und zwar über die unterschiedlichsten Muttersprachen hinweg. Wie die Musik ermöglicht auch die bildende Kunst Kommunikation Menschen unterschiedlichster Herkunft. Diese Handschrift kann von jedem und jeder gelesen werden – seien Sie eingeladen, dies zu tun und in einen Diskurs einzutreten.

 

 

 

© Prof. Dr. Karla Müller